Donnerstag, 18. Februar 2010
Blut ist dicker als Wasser
rittersporn, 16:18h
Eine Schenke am anderen Ende von Wyzima. Vor mir steht eine Tasse mit einem heißen und dampfenden Gebräu, das der Wirt mir als Kaffee vorgestellt hat. Ich trinke ihn schwarz und ungesüßt und merke schon bald, wie gut er mir schmeckt. Das Getränk ist stark genug, um mich die folgenden Stunden wach zu halten, falls dies nötig werden sollte. Ich warte.
Mutter…
Ich spüre ihre Anwesenheit bereits lange, bevor ich sie physisch, mit eigenen Augen zu Gesicht bekomme. Dieses hauchdünne und vibrierende Gefühl von innerer Verbundenheit, dieser letzte Beweis dafür, dass Blut doch dicker als Wasser ist, beschert mir einen kalten Schauer, der langsam an meinem Rückgrat herabrieselt und eigentlich recht gut zu dem allmählich einsetzenden Herbstwetter draußen in der Stadt passen will.
Dabei habe ich gedacht, dass ich auch diese letzte mentale Brücke, welche uns anscheinend immer noch verbindet, hinter mir abgerissen und ihre kläglichen Überreste tief unter einem Gebirge von Verachtung und wohldosiertem Hass begraben zu haben. Tief genug, damit niemand mich je wieder verletzen kann. Weder jetzt noch in Zukunft.
Meine Mutter betritt die Schenke. Sie sieht etwas verloren und eingeschüchtert aus, so wie sie da in der Tür steht und ihre kleine schwarze Handtasche aus billigem Wyvernleder ängstlich an ihre flachen Brüste presst, ganz so, als traue sie sich nicht, einen ihrer schmalen Füße über die Schwelle in das Innere der Schenke zu setzen. Die Furcht vor möglichen Sanktionen und Repressalien, die bei der Überschreitung eines unausgesprochenen Verbotes folgen und die doch lediglich in ihrer lebhaften Fantasie existieren, steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Einige Atemzüge lang, die mir selbst wie eine kleine Ewigkeit vorkommen, lässt sie ihren Blick durch die Schenke schweifen, die sich nun in der frühen Abendstunde allmählich zu füllen beginnt, huscht er unsicher und sprunghaft von einem Detail der Schenke zum nächsten, ohne im Grunde genommen auch nur ein einziges davon wirklich wahrzunehmen. Ich sitze nur wenige Schritte von ihr entfernt an einem kleinen Tisch, von dem aus ich ohne Mühe alle eintretenden Gäste gut beobachten kann, ohne selbst sofort in deren Blickfeld zu geraten.
Zwei Mal streift mich ihr Blick, doch scheint sie mich nicht zu bemerken. Schließlich gleitet ein zaghaftes Lächeln über ihre verhärmten Gesichtszüge, als sie an einer mir unbewussten Geste oder Bewegung meinerseits das Kind wiedererkennt, das sie damals zur Welt gebracht und aufgezogen hat. Habe ich mich in all den Jahren wirklich so verändert?
Mutter hat sich sehr verändert. Nicht zu ihrem Vorteil. Sie erscheint mir geschrumpft und ein ganzes Stück kleiner zu sein, als ich es noch in Erinnerung habe, was ich jedoch auf ihren stark gebeugten Gang zurückführe. Er wirkt auf mich, als läge eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern, so als sei sie stets bereit, sich im rechten Augenblick zu ducken, um nicht von irgendeinem Gegenstand oder gewissen Körperteilen einer anderen Person getroffen zu werden und damit rechtzeitig und unbeschadet die Gefahrenzone verlassen zu können.
Mir vorzustellen, vor wem Mutter sich dermaßen fürchtet und kuscht bereitet mir kaum Kopfzerbrechen.
Mutter ist sehr blass, wobei die Farbe ihres Gesichts mehr einem kränklichen Weiß gleicht als jener Blässe, die man in gewissen höheren Kreisen aristokratisch und vornehm zu nennen pflegt. Dunkle Ringe umschatten ihre Augen, die - ohne sichtbares Feuer - nur matt glänzen wie die schlechte Reflektion in einem Spiegel. Sie zeigen mir nur zu deutlich, dass Mutter sich in der Vergangenheit wohl mehr als nur einmal in den Schlaf geweint hat, sofern sie überhaupt welchen findet. Ihre feinen Fältchen um Mund und Augen sind in den letzten Jahren erwachsen geworden und haben reichlich Nachwuchs bekommen. Ihr Haar, früher lockig und offen getragen, liegt nun eng an ihren Kopf gekämmt und endet in einem fest geknotetem Zopf.
Mutter gleicht einer Frau von sechzig Jahren und nicht, wie es ihrem tatsächlichen Alter entspricht. Sie ist erst fünfundvierzig.
Bin ich etwa dafür verantwortlich? Bin ich etwa der Grund für ihren verfrühten körperlichen Verfall?
Einen Wimpernschlag lang tut sie mir tatsächlich leid, fühle ich mich für ihren Zustand schuldig, doch dann erstirbt dieses Gefühl in mir ebenso rasch wieder, wie es entsteht.
Nein, diesen Schuh ziehe ich mir wahrhaftig nicht an! Zuviel ist damals geschehen. Zu viele böse Worte und Beschimpfungen. Zu viele Drohungen und ergebnislose Diskussionen, die schließlich zu nichts anderem als noch mehr Streit und Zank geführt und rein gar nichts an den Tatsachen geändert hatten. Alles habe ich über mich ergehen lassen wie ein Angeklagter, dessen Schuld bereits feststeht und der keinerlei Anrecht auf Verteidigung hat. Nein, ich werde ihr ebenso wenig verzeihen wie Vater. Ich kann und will auch jetzt immer noch nicht verstehen, warum sie mir damals nicht geholfen und beigestanden hat.
Ich presse meine Lippen zusammen, will, dass sie meine Wut, meinen ganzen angestauten und wiedererwachten Zorn zu sehen und spüren bekommt, doch ihr fragender, um Verzeihung flehender Blick lässt meine ganzen widersprüchlichen Gefühle in sich zusammen brechen wie ein Kartenhaus.
Ich hole tief Luft und atme laut aus, wobei sich mir ein ungewolltes Seufzen über die Lippen davonstiehlt. Sie lächelt mich an und ich versuche ebenfalls ein Lächeln zustande zu bringen, doch stattdessen gelingt mir nur ein gequältes Grinsen. Bevor ich mich dazu durchringen kann ein paar belanglose Worte oder zumindest ein Hallo an sie zu richten, taucht hinter ihr ein dunkler Schatten auf, der sich immer mehr zu verdichten beginnt und deutliche Konturen annimmt. Intuitiv scheint sie die Anwesenheit dieses Schatten zu spüren wie ich zuvor ihre Gegenwart. Kaum, dass sie in die Dunkelheit meines übernächtig erscheinenden Vater eintaucht, verlischt auch schon das zaghafte Lächeln auf ihren Lippen wie eine Flamme im Wind.
Vater!
Im Gegensatz zu Mutter hat sich Vater äußerlich kaum verändert. Ich bezweifle stark, dass dies nicht auch auf seine tief verankerten Ansichten und Vorurteile zutrifft.
Ein leichter Anflug von Panik erfasst mich, als er den Raum betritt und meine Mutter sanft aber bestimmt wie einen persönlichen Schutzschild vor sich herschiebt. Einen Moment lang bin ich vollkommen paralysiert, weiß ich nicht, was ich tun soll. Seine Präsenz im Raum ist fast greifbar und sein herbes Gesichtswasser, das mir nun nach langer Zeit wieder in die Nase steigt, ist kaum auszuhalten. Zum ersten Mal seit langem schlägt mir wieder jene geballte Ladung Männlichkeit entgegen, der ich ein Leben lang aus dem Weg gegangen bin und die ich zu fürchten gelernt habe.
Fast instinktiv sehe ich mich - obwohl er mich noch nicht bemerkt hat und dies allem Anschein nach auch in nächster Zeit nicht tun wird - nach einem Fluchtweg um, auf dem ich sicher außerhalb der Reichweite seiner riesigen und schwieligen Hände und den schmerzhaften Möglichkeiten, die sie ihm bieten, bleiben kann.
Warum ist Vater hier?
Hat Mutter ihm von unserem Treffen erzählt, obwohl ich ausdrücklich darum gebeten hatte, gerade dies nicht zu tun? Vaters Miene verheißt jedenfalls nichts gutes. Seine ungesunde Hautfarbe, die einen leichten Stich ins rötliche aufweist, und seine angespannten Gesichtszüge sind mir nur zu gut vertraut. In diesem Gemütszustand befindet er sich meines Wissens nur, wenn er kurz davor steht die Beherrschung zu verlieren und in der Vergangenheit bin ich immer derjenige gewesen, der darunter leiden muss.
Vater sieht sich kurz um, kann aber das Ziel seiner Suche, nämlich mich, nicht entdecken. Sicher würde der Abend einen ganz anderen Verlauf nehmen, wenn er in diesem Augenblick ahnen würde, dass ich nur wenige Meter entfernt von ihm sitze und die ganze nun folgende Szene mit einem lachenden und einem weinenden Auge beobachte.
Seine erkennbar schlechte Laune erreicht gerade einen neuerlichen Tiefstand. Er reagiert sehr ungehalten auf den Hinweis meiner Mutter, ich wäre ja nun nicht gekommen und man könne ja doch wieder gehen. Er denkt gar nicht daran. Bestimmt erwartet er, dass ich noch erscheine und er die lang ersehnte Möglichkeit erhält, mir noch einmal jeden einzelnen meiner Fehler vorhalten und mir alle Widerwärtigkeiten an den Kopf werfen zu können, die er damals vergessen hat oder die ihm in der Zwischenzeit neu eingefallen sind.
Mutter tut das Beste, was sie kann. Langsam, aber bestimmt lotst sie ihn an einen Tisch in der Ecke der Schenke, die weit genug von meiner Position entfernt ist, um mich in relative Sicherheit zu wiegen, aber noch nah genug, so dass ich verfolgen kann, wie Vater vergeblich auf meine Ankunft wartet, dabei drei Humpen redanisches Lagerbier trinkt und immer unruhiger und gereizter wird. Mutter trinkt hingegen in aller Seelenruhe ihren heiß geliebten Himbeersaft mit Schuss, während ein sanftes, kaum wahrnehmbares Lächeln ihre Lippen umspielt, das Vater, wenn er es bemerkt hätte, wohl auf den Genuss ihres Lieblingsgetränks zurück geführt hätte und nicht auf die Tatsache, dass sie ihm wohl gerade zum ersten Mal in seinem Leben im übertragenem Sinn eine lange Nase dreht.
Nach dem sechsten Humpen Lagerbier und einigen serrikanischen Schnäpsen halten Vater keine zehn Salamandra mehr in dieser Schenke. Mit einem groben Schnaufer schnellt er vom Tisch auf und greift nach seinem Überwams, bellt Mutter kurz etwas zu und poltert mit weit ausholenden Schritten zum Eingang. Mutter hingegen steht langsam auf, nimmt ihre Tasche von der Stuhllehne und drückt ihr Kreuz durch, bevor sie an den Wirt herantritt, um die aufgelaufene Rechnung zu bezahlen. Sie tut dies mit einer Gelassenheit und Würde, die im völligen Widerspruch zu dem tölpelhaften Benehmen meines Vaters steht, der wutschnaubend in der Eingangstür verharrt und sie mehrmals barsch zurechtweist, sie solle sich gefälligst beeilen, er hätte seine Zeit schließlich nicht gestohlen. Sie kümmert sich nicht darum. Das imponiert mir.
Zusammen verlassen sie die Schenke.
Nun tut es mir leid, dass die Gelegenheit in Ruhe einige Worte zu wechseln vorüber gegangen ist, ohne dass ich sie nutzen kann. Viele Fragen bleiben jetzt wohl für längere Zeit unbeantwortet.
Ich lasse noch sicherheitshalber einige Minuten verstreichen, bevor ich bezahle, um nicht versehentlich noch vor der Schenke auf meinen Vater zu treffen.
Als ich den Schankraum gerade verlassen will ruft mich die Schankmaid zurück und gibt mir einen schmalen, aber umfangreichen Umschlag, auf dem mit einer feinsäuberlichen Schrift etwas geschrieben steht. Einen kurzen Moment weiß ich nichts mit dem Umschlag anzufangen, bis ich die Handschrift meiner Mutter erkenne. Es scheint, als sollen nicht alle meine Fragen unbeantwortet bleiben.
Noch einmal schweift mein Blick auf die gestochen scharfe Schrift auf dem Umschlag und erkenne erst jetzt, was dort geschrieben steht:
Julian Alfred Pankratz Viscount de Lettenhove
Und darunter:
Rittersporn
Das ist mein Name….
Mutter…
Ich spüre ihre Anwesenheit bereits lange, bevor ich sie physisch, mit eigenen Augen zu Gesicht bekomme. Dieses hauchdünne und vibrierende Gefühl von innerer Verbundenheit, dieser letzte Beweis dafür, dass Blut doch dicker als Wasser ist, beschert mir einen kalten Schauer, der langsam an meinem Rückgrat herabrieselt und eigentlich recht gut zu dem allmählich einsetzenden Herbstwetter draußen in der Stadt passen will.
Dabei habe ich gedacht, dass ich auch diese letzte mentale Brücke, welche uns anscheinend immer noch verbindet, hinter mir abgerissen und ihre kläglichen Überreste tief unter einem Gebirge von Verachtung und wohldosiertem Hass begraben zu haben. Tief genug, damit niemand mich je wieder verletzen kann. Weder jetzt noch in Zukunft.
Meine Mutter betritt die Schenke. Sie sieht etwas verloren und eingeschüchtert aus, so wie sie da in der Tür steht und ihre kleine schwarze Handtasche aus billigem Wyvernleder ängstlich an ihre flachen Brüste presst, ganz so, als traue sie sich nicht, einen ihrer schmalen Füße über die Schwelle in das Innere der Schenke zu setzen. Die Furcht vor möglichen Sanktionen und Repressalien, die bei der Überschreitung eines unausgesprochenen Verbotes folgen und die doch lediglich in ihrer lebhaften Fantasie existieren, steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Einige Atemzüge lang, die mir selbst wie eine kleine Ewigkeit vorkommen, lässt sie ihren Blick durch die Schenke schweifen, die sich nun in der frühen Abendstunde allmählich zu füllen beginnt, huscht er unsicher und sprunghaft von einem Detail der Schenke zum nächsten, ohne im Grunde genommen auch nur ein einziges davon wirklich wahrzunehmen. Ich sitze nur wenige Schritte von ihr entfernt an einem kleinen Tisch, von dem aus ich ohne Mühe alle eintretenden Gäste gut beobachten kann, ohne selbst sofort in deren Blickfeld zu geraten.
Zwei Mal streift mich ihr Blick, doch scheint sie mich nicht zu bemerken. Schließlich gleitet ein zaghaftes Lächeln über ihre verhärmten Gesichtszüge, als sie an einer mir unbewussten Geste oder Bewegung meinerseits das Kind wiedererkennt, das sie damals zur Welt gebracht und aufgezogen hat. Habe ich mich in all den Jahren wirklich so verändert?
Mutter hat sich sehr verändert. Nicht zu ihrem Vorteil. Sie erscheint mir geschrumpft und ein ganzes Stück kleiner zu sein, als ich es noch in Erinnerung habe, was ich jedoch auf ihren stark gebeugten Gang zurückführe. Er wirkt auf mich, als läge eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern, so als sei sie stets bereit, sich im rechten Augenblick zu ducken, um nicht von irgendeinem Gegenstand oder gewissen Körperteilen einer anderen Person getroffen zu werden und damit rechtzeitig und unbeschadet die Gefahrenzone verlassen zu können.
Mir vorzustellen, vor wem Mutter sich dermaßen fürchtet und kuscht bereitet mir kaum Kopfzerbrechen.
Mutter ist sehr blass, wobei die Farbe ihres Gesichts mehr einem kränklichen Weiß gleicht als jener Blässe, die man in gewissen höheren Kreisen aristokratisch und vornehm zu nennen pflegt. Dunkle Ringe umschatten ihre Augen, die - ohne sichtbares Feuer - nur matt glänzen wie die schlechte Reflektion in einem Spiegel. Sie zeigen mir nur zu deutlich, dass Mutter sich in der Vergangenheit wohl mehr als nur einmal in den Schlaf geweint hat, sofern sie überhaupt welchen findet. Ihre feinen Fältchen um Mund und Augen sind in den letzten Jahren erwachsen geworden und haben reichlich Nachwuchs bekommen. Ihr Haar, früher lockig und offen getragen, liegt nun eng an ihren Kopf gekämmt und endet in einem fest geknotetem Zopf.
Mutter gleicht einer Frau von sechzig Jahren und nicht, wie es ihrem tatsächlichen Alter entspricht. Sie ist erst fünfundvierzig.
Bin ich etwa dafür verantwortlich? Bin ich etwa der Grund für ihren verfrühten körperlichen Verfall?
Einen Wimpernschlag lang tut sie mir tatsächlich leid, fühle ich mich für ihren Zustand schuldig, doch dann erstirbt dieses Gefühl in mir ebenso rasch wieder, wie es entsteht.
Nein, diesen Schuh ziehe ich mir wahrhaftig nicht an! Zuviel ist damals geschehen. Zu viele böse Worte und Beschimpfungen. Zu viele Drohungen und ergebnislose Diskussionen, die schließlich zu nichts anderem als noch mehr Streit und Zank geführt und rein gar nichts an den Tatsachen geändert hatten. Alles habe ich über mich ergehen lassen wie ein Angeklagter, dessen Schuld bereits feststeht und der keinerlei Anrecht auf Verteidigung hat. Nein, ich werde ihr ebenso wenig verzeihen wie Vater. Ich kann und will auch jetzt immer noch nicht verstehen, warum sie mir damals nicht geholfen und beigestanden hat.
Ich presse meine Lippen zusammen, will, dass sie meine Wut, meinen ganzen angestauten und wiedererwachten Zorn zu sehen und spüren bekommt, doch ihr fragender, um Verzeihung flehender Blick lässt meine ganzen widersprüchlichen Gefühle in sich zusammen brechen wie ein Kartenhaus.
Ich hole tief Luft und atme laut aus, wobei sich mir ein ungewolltes Seufzen über die Lippen davonstiehlt. Sie lächelt mich an und ich versuche ebenfalls ein Lächeln zustande zu bringen, doch stattdessen gelingt mir nur ein gequältes Grinsen. Bevor ich mich dazu durchringen kann ein paar belanglose Worte oder zumindest ein Hallo an sie zu richten, taucht hinter ihr ein dunkler Schatten auf, der sich immer mehr zu verdichten beginnt und deutliche Konturen annimmt. Intuitiv scheint sie die Anwesenheit dieses Schatten zu spüren wie ich zuvor ihre Gegenwart. Kaum, dass sie in die Dunkelheit meines übernächtig erscheinenden Vater eintaucht, verlischt auch schon das zaghafte Lächeln auf ihren Lippen wie eine Flamme im Wind.
Vater!
Im Gegensatz zu Mutter hat sich Vater äußerlich kaum verändert. Ich bezweifle stark, dass dies nicht auch auf seine tief verankerten Ansichten und Vorurteile zutrifft.
Ein leichter Anflug von Panik erfasst mich, als er den Raum betritt und meine Mutter sanft aber bestimmt wie einen persönlichen Schutzschild vor sich herschiebt. Einen Moment lang bin ich vollkommen paralysiert, weiß ich nicht, was ich tun soll. Seine Präsenz im Raum ist fast greifbar und sein herbes Gesichtswasser, das mir nun nach langer Zeit wieder in die Nase steigt, ist kaum auszuhalten. Zum ersten Mal seit langem schlägt mir wieder jene geballte Ladung Männlichkeit entgegen, der ich ein Leben lang aus dem Weg gegangen bin und die ich zu fürchten gelernt habe.
Fast instinktiv sehe ich mich - obwohl er mich noch nicht bemerkt hat und dies allem Anschein nach auch in nächster Zeit nicht tun wird - nach einem Fluchtweg um, auf dem ich sicher außerhalb der Reichweite seiner riesigen und schwieligen Hände und den schmerzhaften Möglichkeiten, die sie ihm bieten, bleiben kann.
Warum ist Vater hier?
Hat Mutter ihm von unserem Treffen erzählt, obwohl ich ausdrücklich darum gebeten hatte, gerade dies nicht zu tun? Vaters Miene verheißt jedenfalls nichts gutes. Seine ungesunde Hautfarbe, die einen leichten Stich ins rötliche aufweist, und seine angespannten Gesichtszüge sind mir nur zu gut vertraut. In diesem Gemütszustand befindet er sich meines Wissens nur, wenn er kurz davor steht die Beherrschung zu verlieren und in der Vergangenheit bin ich immer derjenige gewesen, der darunter leiden muss.
Vater sieht sich kurz um, kann aber das Ziel seiner Suche, nämlich mich, nicht entdecken. Sicher würde der Abend einen ganz anderen Verlauf nehmen, wenn er in diesem Augenblick ahnen würde, dass ich nur wenige Meter entfernt von ihm sitze und die ganze nun folgende Szene mit einem lachenden und einem weinenden Auge beobachte.
Seine erkennbar schlechte Laune erreicht gerade einen neuerlichen Tiefstand. Er reagiert sehr ungehalten auf den Hinweis meiner Mutter, ich wäre ja nun nicht gekommen und man könne ja doch wieder gehen. Er denkt gar nicht daran. Bestimmt erwartet er, dass ich noch erscheine und er die lang ersehnte Möglichkeit erhält, mir noch einmal jeden einzelnen meiner Fehler vorhalten und mir alle Widerwärtigkeiten an den Kopf werfen zu können, die er damals vergessen hat oder die ihm in der Zwischenzeit neu eingefallen sind.
Mutter tut das Beste, was sie kann. Langsam, aber bestimmt lotst sie ihn an einen Tisch in der Ecke der Schenke, die weit genug von meiner Position entfernt ist, um mich in relative Sicherheit zu wiegen, aber noch nah genug, so dass ich verfolgen kann, wie Vater vergeblich auf meine Ankunft wartet, dabei drei Humpen redanisches Lagerbier trinkt und immer unruhiger und gereizter wird. Mutter trinkt hingegen in aller Seelenruhe ihren heiß geliebten Himbeersaft mit Schuss, während ein sanftes, kaum wahrnehmbares Lächeln ihre Lippen umspielt, das Vater, wenn er es bemerkt hätte, wohl auf den Genuss ihres Lieblingsgetränks zurück geführt hätte und nicht auf die Tatsache, dass sie ihm wohl gerade zum ersten Mal in seinem Leben im übertragenem Sinn eine lange Nase dreht.
Nach dem sechsten Humpen Lagerbier und einigen serrikanischen Schnäpsen halten Vater keine zehn Salamandra mehr in dieser Schenke. Mit einem groben Schnaufer schnellt er vom Tisch auf und greift nach seinem Überwams, bellt Mutter kurz etwas zu und poltert mit weit ausholenden Schritten zum Eingang. Mutter hingegen steht langsam auf, nimmt ihre Tasche von der Stuhllehne und drückt ihr Kreuz durch, bevor sie an den Wirt herantritt, um die aufgelaufene Rechnung zu bezahlen. Sie tut dies mit einer Gelassenheit und Würde, die im völligen Widerspruch zu dem tölpelhaften Benehmen meines Vaters steht, der wutschnaubend in der Eingangstür verharrt und sie mehrmals barsch zurechtweist, sie solle sich gefälligst beeilen, er hätte seine Zeit schließlich nicht gestohlen. Sie kümmert sich nicht darum. Das imponiert mir.
Zusammen verlassen sie die Schenke.
Nun tut es mir leid, dass die Gelegenheit in Ruhe einige Worte zu wechseln vorüber gegangen ist, ohne dass ich sie nutzen kann. Viele Fragen bleiben jetzt wohl für längere Zeit unbeantwortet.
Ich lasse noch sicherheitshalber einige Minuten verstreichen, bevor ich bezahle, um nicht versehentlich noch vor der Schenke auf meinen Vater zu treffen.
Als ich den Schankraum gerade verlassen will ruft mich die Schankmaid zurück und gibt mir einen schmalen, aber umfangreichen Umschlag, auf dem mit einer feinsäuberlichen Schrift etwas geschrieben steht. Einen kurzen Moment weiß ich nichts mit dem Umschlag anzufangen, bis ich die Handschrift meiner Mutter erkenne. Es scheint, als sollen nicht alle meine Fragen unbeantwortet bleiben.
Noch einmal schweift mein Blick auf die gestochen scharfe Schrift auf dem Umschlag und erkenne erst jetzt, was dort geschrieben steht:
Julian Alfred Pankratz Viscount de Lettenhove
Und darunter:
Rittersporn
Das ist mein Name….
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